NiedersachsenMetall-Präsident Wolfgang Niemsch: „Die Inflation trifft nicht nur die Verbraucher, sondern auch die Unternehmen“

Interview mit Wolfgang Niemsch, NiedersachsenMetall-Präsident.

Herr Niemsch, wie stark ist Ihr Unternehmen Lanico vom Fachkräftemangel betroffen?
Wir brauchen dringend gut qualifizierte Leute. Wir suchen zum Beispiel seit Monaten einen Elektriker für Haus und Hof, außerdem Industriemechaniker mit der Fachrichtung Montagetechnik für unseren Servicebereich, Maschinenbau-Ingenieure und IT-Spezialisten. Ich fürchte auch, das bleibt noch eine Weile so – das liegt vor allem an unserem Bildungssystem.

Warum?
In den niedersächsischen Berufsschulen für technische Berufe gehen zum Beispiel in den nächsten fünf Jahren 40 Prozent der Lehrkräfte in den Ruhestand, es kommen so gut wie keine Lehrer nach. Schon jetzt gibt es dort Unterrichtsausfall en masse. Die Politik versucht das unter anderem über Quereinsteiger abzufedern, aber das dauert zu lange.

Die Versorgung mit Lehrkräften ist aber nicht entscheidend für die Berufswahl.
Das stimmt. Die Zahl der Ausbildungsplätze war in den letzten Jahren deutlich rückläufig, ein wenig ist das auch Corona geschuldet. Die Zahl der Auszubildenden im gewerblich-technischen Bereich steigt in diesem Jahr aber langsam wieder. Ein Grund für den Fachkräftemangel ist schlicht die Demografie. Wir brauchen mehr junge Leute, als überhaupt zur Verfügung stehen.

Sie haben kürzlich Sympathien für eine 42-Stunden- Woche geäußert.

Die Metall-Unternehmen in Niedersachsen haben derzeit drei Probleme: Die Preissteigerungen für Vormaterialien und Rohstoffe, der Fachkräftemangel und, dass die Arbeit noch durch höhere Löhne einmal deutlich teurer werden soll.

Die IG Metall fordert in der laufenden Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie acht Prozent mehr Lohn…
Eigentlich ist die 8-Prozent-Forderung sogar zu niedrig, wenn der Anspruch der IG Metall ist, den Lebensstandard ihrer Mitglieder zu erhalten und keinen Kaufkraftverlust hinzunehmen. Aber: Die Inflation trifft nicht nur die Verbraucher, sondern auch die Unternehmen. Wenn die Forderung nach acht Prozent realisiert werden sollte, sind wir mit überproportional steigenden Personalkosten konfrontiert. Als Arbeitgeber mit sozialer Verantwortung wollen wir andererseits, dass Mitarbeiter, vor allem in den unteren Lohngruppen, ihre Energiekostenrechnungen bezahlen können.

Wie könnte eine Lösung aussehen?
Der Bund will Arbeitgebern ermöglichen, einen Bonus von 3000 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei an die Mitarbeiter auszuzahlen. Diese Komponente könnten wir in der laufenden Tarifrunde nutzen. Die zweite Möglichkeit wäre, zwei Stunden pro Woche mehr zu arbeiten, also 37 Stunden in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie und 39 Stunden in den neuen Bundesländern. Warum sollen wir nicht montags bis donnerstags eine halbe Stunde länger arbeiten Damit würden wir auch das Fachkräfteproblem abfedern und eine Produktivitätssteigerung von knapp sechs Prozent erreichen.

Wie fände das Ihre Belegschaft?
Bei uns arbeiten viele mehr als 35 Stunden die Woche und bekommen das über die Arbeitszeitkonten entsprechend bezahlt. Heben wir im Tarifvertrag die Arbeitszeit an, hätten wir automatisch eine Entgeltsteigerung von sechs Prozent „im Sack“. Dann können wir uns immer noch über eine tabellenwirksame Entgelterhöhung im erträglichen Rahmen unterhalten. Damit würden wir zwei von den drei genannten Problemen lösen.

Eine Erhöhung der von den Gewerkschaften hart erkämpften 35-Stunden-Woche in der Industrie wäre ein Dammbruch. Müssen Sie sich bei solch einer Forderung nicht auf massive Gegenwehr einstellen?
Ja, die IG Metall schwärmt heute noch von diesem Kampf. Diese alte Errungenschaft wieder aufzugeben ist sicher ein hartes Brett. Aber angesichts der Situation darf es keine Denkverbote geben.

Soll die 37-Stunden-Woche Ihrer Vorstellung nach nur vorübergehend sein?
Darüber können wir uns unterhalten, wenn diese Krise irgendwann vorbei sein sollte. Der Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie sieht übrigens jetzt schon die Möglichkeit vor, dass 17 Prozent der Belegschaft 40 Stunden pro Woche arbeiten können. Es gäbe in der jetzigen Tarifrunde daher auch die Möglichkeit, diese Quote zu verändern oder sie abzuschaffen. In Zukunft werden wir um flexiblere Arbeitszeitmodelle nicht herumkommen.

Die IG Metall will aber nur den Lohn verhandeln, keine Arbeitszeitmodelle – und sagt, viele Unternehmen in der Branche hätten in den letzten Jahren gut verdient, während die Beschäftigten seit 2018 auf tabellenwirksame Erhöhungen verzichtet hätten.
Dass es keine Erhöhung gegeben hat, ist schlichtweg nicht wahr. Wir haben das Urlaubsgeld um 17 Prozent erhöht, es kann auch in acht freie Tage umgetauscht werden. Im Grundentgelt ist das zwar tatsächlich nicht wiederzufinden, aber in den letzten vier Jahren hatten wir insgesamt eine Erhöhung, die neun Prozent des Jahresentgelts ausgemacht hat.
Die Forderung der Gewerkschaft nach einer tabellenwirksamen Erhöhung kann ich zwar nachvollziehen. Und es ist auch richtig, dass viele Unternehmen trotz Corona in den vergangenen Jahren gut verdient haben. Aber dieser Gewinn schmilzt im Moment dahin wie das Eis in der Sonne.

Können Sie ein Beispiel geben?
Unser Unternehmen Lanico liefert größere Maschinen und Anlagen, die etwa zwei Drittel unseres Gesamtumsatzes ausmachen, mit einer Durchlaufzeit von durchschnittlich 12 Monaten. Die Maschinen, die wir jetzt ausliefern, sind also im Sommer 2021 angeboten und im Oktober 2021 verkauft worden, zu einem damals festgelegten Preis. Schon heute weiß ich, wie viel Verlust ich damit machen werde. Je längere Durchlaufzeiten Unternehmen bei einer hohen Inflation haben, desto mehr kommen sie ins kurze Gras.

Können Sie Verträge nicht nachverhandeln?
Doch, das haben wir geschafft, um fünf Prozent. Aber die reichen nicht.

Dafür können sie künftige Verträge aber doch entsprechend kalkulieren. Ist das, was Sie erleben, nicht nur eine Delle?
Im langfristigen Einkauf nicht. Außerdem merken wir, dass auch die Nachfrage nachgelassen hat. Wir haben im zweiten und dritten Quartal dieses Jahres im Vergleich zu diesen Quartalen des Vorjahres ein Minus von 41 Prozent. Wir kommen zwar von einem hohen Auftragsbestand, aber es ist dennoch ein Einbruch. Hinzu kommen die steigenden Lagerkosten, weil wir Materialien stärker als vorher vorhalten müssen. Über kurz oder lang werden Unternehmer und auch die arbeitende Bevölkerung über Verzicht reden müssen. Was mich besorgt, ist die Deindustrialisierung.

Inwiefern?
Einer der wichtigsten Lieferanten unserer Kunden ist der Blech-Hersteller Arcelor-Mittal, der mal eben sein Werk in Hamburg geschlossen hat. Experten rechnen damit, dass das Werk mit seinen 430 Mitarbeitern auch nicht mehr hochgefahren wird. Arcelor Mittal will außerdem ein französisches Werk schließen, das Hausund Hof-Lieferant für Peugeot, Citroën und Renault und damit auch für Opel ist. Das ist beängstigend.
Ein anderes Beispiel: Unser zweitgrößter europäischer Kunde mit Sitz im Baltikum hat 2018 ein großes Werk in den Niederlanden eröffnet – jetzt schließen sie es. Das sind richtige Einschläge. Auch Thyssenkrupp überlegt, ganze Standorte herunterzufahren. Wir erreichen ein Maß an Deindustrialisierung, das mir Sorgen macht. Wir brauchen Wertschöpfung im Land. Sonst werden wir alle auf vieles, das uns liebgeworden ist, verzichten müssen.

Wie viel sozialer Sprengstoff steckt in dieser Aussage?
Unsere Mitarbeiter sagen, dass Ihnen der Arbeitsplatz das Wichtigste ist und am Ende der Tarifverhandlungen ein tragfähiger Kompromiss herauskommen muss. Das ist aber auch leicht dahingesagt, weil die Tarife in der Metall- und Elektroindustrie für qualifiziere Berufstätige schon überdurchschnittlich sind. Wir haben kaum Leute, die mit weniger als 50.000 Euro Jahresentgelt nach Hause gehen. Jemand, der 40 Stunden bei Mc- Donalds an der Fritteuse steht und 12 Euro bekommt, hat natürlich ein viel größeres Problem.

Was fordert die Niedersachsenmetall angesichts dieser Sorge von der Politik?
Die EU muss das Merit-Order-Prinzip beim Stromhandel aufgeben, und zwar innerhalb der nächsten Wochen. Die deutsche Regierung sollte sich zudem an Spanien ein Beispiel nehmen, wo übrigens Sozialisten die Regierung stellen. Dort wird das Gas, das für die Stromerzeugung benötigt wird, gedeckelt. Dadurch haben sie die Strompreise mit 21 Cent pro Kilowattstunde in den Griff bekommen. In Deutschland zahlen wir ungefähr das doppelte.
Als drittes muss die Versorgungssicherheit gewährleistet werden, und zwar dadurch, dass die Regierung die Kern- und Kohlekraftwerke weiterlaufen lässt – ohne, dass der Ausstieg aus der Atomkraft grundsätzlich in Frage gestellt wird. Auch der Deckel beim Biogas muss endlich weg. Alle Maßnahmen zusammen würden für eine deutliche Entspannung am Energiemarkt sorgen.

Mit welchen Energiekostensteigerungen rechnen Sie für Lanico?
Im Oktober kaufen wir für knapp über 40 Cent Strom ein, wir kommen von 4,7 Cent. Wenn die Maßnahmen der Politik umgesetzt werden, gehe ich für Dezember von einer spürbaren Entlastung aus – wobei der Energiebedarf aufgrund der dunklen Jahreszeit und den zu erwartenden Temperaturen wieder steigt. Bislang hatten wir pro Jahr Stromkosten in Höhe von 200.000 Euro, jetzt rechnen wir mit ungefähr einer Millionen Euro mehr.

Wie sparen Sie Energie?
Wir haben gerade unsere Dächer saniert und stabilisiert, damit wir darauf Photovoltaikanlagen installieren lassen können und autark werden. Aber auch da muss die Politik nachbessern, damit wir zum Beispiel auch am Wochenende ins Netz einspeisen dürfen. Unsere Heizung läuft erst seit Montag wieder, bei mir im Büro sind es 18 Grad, in den Hallen 19 Grad. In der mechanischen Fertigung brauchen wir 20 Grad, sonst verändern sich die Materialien.

Wie lange wird die Inflation Ihrer Einschätzung nach dauern?
Die nächsten anderthalb Jahre, und sie wird auch noch steigen. Alle Kosten von Vormaterialien und Energie steigen um 60 bis 70 Prozent. Deshalb müssen wir zum Beispiel die Preise für unsere Verpackungsmaschinen um rund 25 Prozent erhöhen. Bis diese 25 Prozent bei unseren Kunden ankommen und sie dann wiederum ihre Dosen oder die Verpackungen um 25 Prozent teurer machen, dauert es noch. Und dann muss auch noch der Lebensmittelproduzent bei den Händlern höhere Preise durchsetzen. Bis diese bei den Verbrauchern ankommen, wird es 2024 werden. Erst dann werden wir wieder in die Balance von Angebot und Nachfrage kommen.

Wenn Sie ihre Preise erhöhen, können Sie Ihre Kostensteigerungen weitergeben. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen können das nicht, sie müssen für ein Stück Butter die drei Euro an der Kasse bezahlen. Was Sie berichten, ist eigentlich eine Steilvorlage für die Gewerkschaften.
Ja, das ist mir klar. Wenn die IG Metall will, dass ihre Mitglieder auf nichts verzichten werden müssen, gebe ich Ihnen Recht. Aber wir müssen jetzt den Industriestandort Deutschland erhalten, darum geht es am Ende des Tages. Und den sehe ich deutlich gefährdet. Es geht jetzt nicht um mögliche Produktionsverlagerung nach Polen, sondern darum, dass die Produktion komplett eingestellt wird. Außerdem brauchen die Unternehmen das Geld für Investitionen, um sich energieunabhängiger zu machen. Wir bei Lanico investieren hierein gerade so viel, wie in den letzten 20 Jahren nicht.

Was prognostizieren Sie, wie lange der Tarifvertrag laufen wird?
Ich denke, höchstens zwölf Monate. Wir müssen damit über den Winter kommen, und können und uns im Frühjahr wieder zusammen setzen. Das empfände ich als verantwortungsvoll, weil wir im Moment nur auf Sicht fahren, zum Teil mit dickem Nebel. Bei Lanico haben wir deswegen wie viele andere Unternehmen vorsorglich schon Kurzarbeit angemeldet – für den Fall, dass wir keinen Strom mehr bekommen und die Maschinen still stehen.

Dieses Interview ist in der Braunschweiger Zeitung erschienen.