Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf: „Wir müssen länger und mehr arbeiten“

Interview mit Dr. Stefan Wolf, Gesamtmetall-Präsident.

Herr Wolf, Russland hat die Gaslieferungen erneut gedrosselt. Rechnen Sie mit einem vollständigen Gasstopp?
Man darf Putin nicht unterschätzen, er ist ein Stratege. Würde er jetzt das Gas komplett abstellen, dann würde er uns zwar treffen – aber nicht so hart wie im Oktober oder November. Man kann vermuten, dass der komplette Gasstopp im Herbst kommen wird – zu einer Zeit, in der auch die Privathaushalte ihre Gasheizungen wieder nach oben fahren werden.

Die Meinungen darüber, wie schlimm ein Gasstopp Deutschland treffen würde, reichen von „verkraftbar“ bis hin zur „Zerstörung der Volkswirtschaft“. Wo verorten Sie sich auf dieser Skala?
Man kann Krisen immer meistern. Wichtig ist, sich jetzt zu überlegen, wo man bereits Gas einsparen kann. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat gute Vorschläge präsentiert. Ganz wichtig ist, dass der Vorrang der Privathaushalte bei der Gasversorgung fällt. Wir müssen gezielt schauen, welche Industrien systemrelevant sind. Wenn wir Privathaushalte in einer Mangellage beliefern und die Industrie hintenüberfällt, dann können die Menschen zwar noch Gas beziehen, ihre Abrechnungen aber trotzdem nicht mehr bezahlen, weil sie arbeitslos werden. Wird die Industrie vernachlässigt, sind Hunderttausende Arbeitsplätze gefährdet.

Der Verbraucherschutz beim Gas ist geltendes EU-Recht.
Es gibt viele europäische Regelungen, die zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als man sich Situationen wie die jetzige nicht vorstellen konnte. Deshalb ist die Bundesregierung gefordert, klare Kante zu zeigen und im Notfall entsprechende Verteilungen zu ermöglichen. Es geht darum, die deutsche Wirtschaft zu erhalten.

Was wäre ein Kompromiss bei der Verteilung?
Man muss eine intelligente Aufteilung finden. Die Industrien, die elementar auf Gas angewiesen sind, müssen wir versorgen. Gehen in der Glasindustrie wegen fehlenden Gases die Wannen kaputt, entstehen uns Milliardenschäden. Das müssen wir verhindern.

Manche Konzerne profitieren kräftig von der Krise. Teile der Politik fordern eine Übergewinnsteuer.
Von einer Übergewinnsteuer halte ich gar nichts. Es gibt Unternehmen, die derzeit eine Sonderkonjunktur haben. Eine Sonderkonjunktur zu besteuern halte ich für falsch.

Ist dann auch das Vorgehen der Mineralölkonzerne nur eine „Sonderkonjunktur“ – immerhin ermittelt das Kartellamt?
Von den höheren Spritpreisen profitiert der Staat massiv durch höhere Steuereinnahmen. Zudem ist der Ölpreis deutlich gestiegen. Auch Mineralölkonzerne kämpfen mit Mehrkosten und die Ermittlungen sind abzuwarten.

Innerhalb der Bundesregierung tobt eine Debatte zur Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke. Sollten die AKWs am Netz bleiben?
Ich halte eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke für absolut notwendig. Eine verlängerte Laufzeit der drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke kann die Verstromung von Gas deutlich reduzieren. Und sie kann dazu beitragen, die Stromversorgung zu sichern, wenn wirklich kein Gas mehr zu Verfügung steht. Wir müssen aber auch eine Debatte über den Bau von neuen Atomkraftwerken führen. Weltweit werden derzeit 50 neue Atomkraftwerke gebaut, die Technik hat sich weiterentwickelt. Die EU hat die Atomenergie gerade erst als grüne Energie gekennzeichnet.

Die Kosten von Atomstrom sind über die gesamte Lebensdauer eines Kraftwerks gerechnet viel höher als bei erneuerbaren Energien. Legen Sie nicht einen falschen Fokus?
Der Fokus muss auf erneuerbaren Energien liegen. Aber unser Gesamtstrombedarf wird in Zukunft enorm sein. Bei den langen Genehmigungs- und Bauzeiten hierzulande werden wir ihn niemals mit regenerativen Energien abdecken können.

Was halten Sie von einem Gaspreisdeckel?
Das kommt auf die Ausgestaltung an. Grundsätzlich bin ich für die freien Regelungskräfte des Marktes. Sollte sich der Gaspreis noch mal deutlich erhöhen, dann muss man sich neu Gedanken machen.

Ab Oktober soll das Gas-Auktionsmodell für Unternehmen starten. Ist das eine gute Idee?
Ich halte ein Gas-Auktionsmodell nicht für sinnvoll. Es braucht intelligente Verteilsysteme. Auktionen treiben nur die Preise nach oben. Die Belastungen für alle Unternehmen über die hohen Energie- und Materialpreise sowie die Transportkosten sind bereits massiv gestiegen. Und in einer solchen Lage fordert die IG Metall acht Prozent mehr Lohn.

Was bedeutet die Forderung für Sie?
Ich halte die Forderung für verantwortungslos und frage mich, ob sich die Verhandler von der IG Metall überhaupt irgendwelche Gedanken gemacht haben. Wir haben bereits ein extrem hohes Lohnniveau in der Metall- und Elektroindustrie. In der jetzigen Situation muss man eher Verzicht üben. Es geht darum, Arbeitsplätze zu sichern.

Die IG Metall rechtfertigt die Forderung auch damit, dass so der Konsum und damit die Konjunktur am Laufen gehalten wird.
Wir brauchen keine acht Prozent mehr Lohn in der Metall- und Elektroindustrie, um in der Konsumgüterindustrie die Wirtschaft am Laufen zu halten. Einen Einfluss hat die Inflation, aber dort sind die Politik und die Europäische Zentralbank gefordert. Würden wir die Inflation über eine Lohnerhöhung abfedern, kommen wir in eine Lohn-Preis-Spirale.

Rechnen Sie mit Streiks?
Mit Warnstreiks rechne ich auf jeden Fall, das ist ein elementarer Bestandteil für die IG Metall. Ich hoffe nur, dass die IG Metall sich besinnt und ihr Instrument der Ganztagesstreiks überdenkt. In der jetzigen Situation den Unternehmen mit einem Streik hohe Kosten aufzubürden halte ich für falsch.

Angesichts der Warnstreiks in Seehäfen hätte sich Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die Ausrufung eines nationalen Notstands vorstellen können, der das Streikrecht brechen würde. Wäre so etwas bei einem Gasstopp auch für die Metall- und Elektroindustrie denkbar?
Grundsätzlich muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Aber wenn es zu solchen Beeinträchtigungen käme, die Schäden in der Wirtschaft hervorrufen, dann geht es auch um die Reputation Deutschlands.

Im vergangenen Jahr haben Sie sich offen für die Rente mit 70 gezeigt. Was ziehen Sie vor – die Rente mit 70 oder die 42-Stunden-Woche?
Schaut man sich die demografische Entwicklung und die Belastungen der Sozial- und Rentenkassen an, dann sind die Reserven aufgebraucht. Wir werden länger und mehr arbeiten müssen. Stufenweise werden wir auf das Renteneintrittsalter von 70 Jahren hochgehen müssen – auch weil das Lebensalter immer weiter steigt. Ansonsten wird das System mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein.

Dieses Interview ist im Hamburger Abendblatt erschienen.